Donnerstag, 15. Mai 2014

Wo die Zeit gemacht wird

Über dem Eingang hängt die Zeit. 12:03 steht dort in leuchtend roten Ziffern. Und nun das, ich bin zu spät. Ausgerechnet bei den „Zeit“-Genossen. Um die Uhrenhalle der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig zu besuchen, habe ich mich mit Christian Tamm aus dem Fachbereich „Zeit und Frequenz“ verabredet; eigentlich schon vor 3 Minuten.

Ich betrete den Kopfermann-Bau, ein rotes Backsteingebäude aus den 60er Jahren, und stehe in einem langen Flur. Christian Tamm erwartet mich vor einer großen Stahltür. Ich öffnen sie und erblicke eine Schleuse, die mit Kupferplatten ringsum ausgekleidet ist. Wohltemperiert ist der Raum dahinter. Auch hier sind Wände und Decke mit Kupferplatten verkleidet. Die Klimaanlage läuft unüberhörbar.

Hier also kommt unsere Zeit her. Hier wird die Sekunde „gemacht“.

Viele Jahrhunderte wurde die Zeit als der 86400-te Teil eines mittleren Sonnentages, einer vollständigen Umdrehung der Erde um ihre Achse in Bezug zur Sonne, definiert. Wissenschaftler entdeckten jedoch, dass die Erdrotation nicht konstant genug war, um als Grundlage für den Zeitstandard zu dienen. Die Sekunde wurde deshalb im Oktober 1967 durch die 13. Generalkonferenz für Maß und Gewicht international neu definiert als: „Die Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids Cs-133 entsprechenden Strahlung.“ Was das bedeutet, werde ich gleich erfahren.

Auf der einen Seite liegen, auf Stahlgestellen, zwei unscheinbare Röhren mit der Aufschrift „CS1“ und „CS2“. Auf der anderen Seite stehen zwei solcher Röhren, beschriftet mit „CSF1“ und „CSF2“. Sie erinnern mich an den Kessel einer Dampflok, nur kleiner. Ähnlich wie ich ihn erst kürzlich bei der Denkmallokomotive 01 1063 vor dem Braunschweiger Hauptbahnhof gesehen habe. Christian Tamm erklärt, dass in diesen „Röhren“ der sogenannte Hohlraum-Resonator steckt, durch den die Cäsiumatome geleitet werden. Innerhalb der Röhren herrscht ein Vakuum. Und die Kupferverkleidung wurde angebracht, um jegliche Außen-Strahlung, die die Messergebnisse verfälschen könnte, gar nicht erst in die Uhrenhalle zu lassen. CS1 und CS2 sind die „alten“ Uhren, die durch die Cäsiumfontänen CSF1 und CSF2 ersetzt wurden. Dabei steht das „CS“ für Cäsium. Genauer: Cäsium 133 (133CS).

133CS ist ein hoch reaktives, nicht radioaktives Leichtmetall und hat mit 28,7 °C einen extrem niedrigen Schmelzpunkt. Das Element 133CS wurde in den 1960er Jahren aus ganz praktischen Gründen ausgewählt. Schon damals konnte man die beiden Grundzustände, deren energetischer Abstand bei 9 GHz liegt, noch mit elektronischen Mitteln hinreichend genau detektieren.

In einem Ofen wird das Cäsium verdampft und in Richtung des Hohlraum-Resonators geleitet. Ein Magnet am Anfang sortiert die Atome entsprechend ihrer Polarität. Innerhalb des Resonators werden sie mit einem Mikrowellenfeld angeregt, um die Polarität zu wechseln. Das geschieht nur, wenn die Mikrowelle eine Frequenz von genau 9 192 631 770 Hz hat. Am Ende gelangen die Atome durch einen zweiten Magneten. Hier werden die, die es geschafft haben innerhalb des Mikrowellenfeldes ihre Polarität zu ändern, in einen Detektor gelenkt. Die anderen werden einfach weggeworfen. Durch eine hochkomplexe Regelelektronik wird die Frequenz gehalten und ausgezählt. Fertig ist die Sekunde.

Diese Uhren sind so genau, dass sie im Laufe eines Jahres höchstens um 12 Milliardstel Sekunden relativ zu einer idealen Uhr abweichen. Wäre die Cäsium-Uhr, deren Ofen mit 5 Gramm Cäsium gefüllt ist, mit dem Urknall entstanden, so würde sie heutzutage nur etwas mehr als eine Sekunde falsch gehen. Allerdings hätte dazu jemand alle 13 Jahre das Cäsium nachfüllen müssen.

Ich gehe aus der Uhrenhalle an die frische Luft. Die Sonne scheint. Ein letzter Blick zurück, ein Blick auf die PTB-Uhr die über dem Eingang hängt. Es ist halb eins. Ich vergleiche meine mechanische Armbanduhr mit der Zeit aus der Atomuhr und stelle sie. Nun trage ich, wenigstens für die nächste Sekunde, die ganz genaue Zeit am Handgelenk.


[Mehr zur Zeit ist auf den Seiten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zu finden.]